„Paralympics-Gold ist besser als Sex“ - Verena Bentele
Datum: Donnerstag, 22.Dezember 2005
Thema: Menschen & Möglichkeiten


Verena beim Langlauf, Foto: Evelyn BolsingerDie blinde Verena Bentele ist ein Star des Behindertensports und behauptet sich auch im Studium und im Münchner Großstadtdschungel

 

„Hopp auf drei, hopp gerade, hopp, hopp, hopp auf neun, hopp runter, hopp gerade, hopp langsamer Verena.“ Beständig wie ein Uhrwerk gibt Ralph Schmidt seine Instruktionen an Verena Bentele. Die akustischen Signale lotsen die Biathletin durch den Langlaufparcours in Soldier Hollow bei Salt Lake City. Für die von Geburt an blinde Verena ist der ständige Kontakt zu ihrem Trainer und Guide nicht nur läuferisch notwendig, sondern er bringt im Rennverlauf auch taktische Vorteile. So wird sie von Schmidt manchmal zur Mäßigung ermahnt, wenn sie schon die ersten Kilometer mit voller Energie angehen will. Und wenn gegen Ende die Kräfte nachlassen, sind die psychologischen Fähigkeiten ihres Coaches gefragt, um Verena für den Schlussspurt noch einmal kräftig zu motivieren.


Verena beim SchießenNur beim Schießen ist Verena auf sich allein gestellt. Zum Schießstand wird sie noch geführt, dort liegt dann das Gewehr bereit und sie setzt sich einen Kopfhörer auf. Über ein Tonsignal mit den Zielscheiben verbunden, muss Verena nun ihren Körper trotz hoher Pulsfrequenz so in den Griff bekommen, dass sie beim höchsten Ton abdrücken kann, um exakt die Mitte der Scheibe zu treffen, immer in der Hoffnung, nicht von einem tiefen, dröhnenden Signal aufgeschreckt zu werden, welches einen Fehlschuss anzeigen würde.

Mit vier Goldmedaillen im Skilanglauf und Biathlon war Verena Bentele die erfolgreichste deutsche Athletin bei den Winterparalympics 2002 in Salt Lake City. Sie repräsentiert einen neuen Typus gehandicapter Leistungssportler: durchtrainiert, selbstbewusst, lebensfroh, risikobewusst und wettkampfstark. Im Fernsehstudio wirft sich die kecke Verena mit den ebenfalls viermal bei den Paralympics erfolgreichen Martin Braxenthaler und Gerd Schönfelder im Gespräch sympathisch die Bälle zu. Das wirkt auch bei Sponsoren, die mit Verena sinnvoll und gewinnbringend für ihre Produkte und den Behindertensport werben und es ihr ermöglichen, ein in materieller Hinsicht weitgehend sorgloses Studentenleben zu führen.

Verena am Obststand„Der Sport hat mir körperliche Fitness, Selbständigkeit und viele Kontakte gegeben“, berichtet Verena, „und bildet im Moment meinen Lebensmittelpunkt“. Aufgewachsen ist die 21-Jährige auf dem elterlichen Öko-Bauernhof bei Tettnang am Bodensee. Ihr älterer Bruder Michael ist ebenfalls blind, der jüngere Johannes kann sehen. Das Gymnasium besuchte sie an der Blindenstudienanstalt in Marburg. Mit 12 Jahren wurde sie zunächst für die Leichtathletik entdeckt, bevor sie dann zu Langlauf und Biathlon kam und 1997 mit EM-Gold den ersten großen Erfolg erzielte. Seit einem Semester studiert sie nun in München Germanistik. Zur Uni fährt sie mit der U-Bahn. Dabei hat sie ihren Laptop mit Braillezeile immer dabei. Bücher kann sie zu Hause einscannen, Unterlagen wie Referate und Thesenblätter erhält sie von ihren Kommilitonen per E-Mail, um sie sich mit Hilfe eines speziellen Computerprogramms vorlesen zu lassen. „Das klappt alles eigentlich wunderbar, dauert aber immer einen Ticken länger“, sagt Verena. Nach dem Studium möchte die Schnellrednerin in der Öffentlichkeitsarbeit oder in den Medien tätig werden.

Zumindest bis zu den nächsten Winterparalympics 2006 in Turin wird jedoch der Sport im Vordergrund stehen. Im Sommer bedeutet dies sieben Mal in der Woche Rollski, Joggen und Krafttraining in München. Im Winter wird zweimal am Tag trainiert, an den Wochenenden geht es mit dem neuen Trainer Franz Lankes, einem ehemaligen Europacupläufer, zum Langlauf nach Ruhpolding, wo Verena auch auf nichtbehinderte Stars wie Uschi Diesl trifft. Das Schießen kann Verena dank der akustischen und damit unscharfen Waffe immerhin auch auf ihrer Studentenbude im ehemaligen Olympiadorf vom Sofa aus üben. „Die Plackerei ist gewaltig, aber schließlich ist Paralympics-Gold auch besser als Sex“, bekennt sie.

Verena im CaféDas im Sport trainierte Bewegungsgefühl und der souveräne Umgang mit ihrer Behinderung kommen Verena auch im Großstadtdschungel, bei Theater- oder Konzertbesuchen oder beim Kneipenbummel, zugute. „Ich habe eine extrem gute Orientierung, obwohl ich nur hell und dunkel voneinander unterscheiden kann.“ Natürlich ist sie im Alltag häufig auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen, aber wenn es jemand mal eilig hat, ist sie auch nicht böse, wenn ihr diese einmal verweigert wird. Beim Kauf von Kleidung verlässt sie sich ganz auf die Beratung und den Geschmack von Freunden. „Ich bin lebensbejahend und offen“, sagt Verena, „und will mir den Alltag durch übertriebenes Pochen auf meine Selbständigkeit nicht unnötig schwer machen.“ Dadurch, dass sie die Leute nur höre und hunderte Menschen an der Stimme erkennen kann, habe sie ohnehin eine bessere Menschenkenntnis. Genervt ist Verena nur, „wenn mich die Leute sofort anfassen und irgendwo hinzerren wollen“, was aus falsch verstandener Hilfsbereitschaft häufig passiere.

Verena steigt in den ZugIns Trainingslager, zu ihren Eltern oder zum Sponsoren-Auftritt fährt Verena Bentele fast ausschließlich mit der Bahn. „Die Bahn ist mein bester Freund“, sagt Verena. „Als blinder Mensch kann ich eine Begleitperson sogar umsonst mitnehmen“. Doch davon macht sie selten Gebrauch, denn auf dem wuseligen Münchner Hauptbahnhof kennt sich Verena bestens aus und kommt mit ihrem Blindenstock ganz allein zurecht. „Ich höre die Wände und Rolltreppen und kann die Geräusche zu einem Bild zusammensetzen, so dass ich eigentlich immer selbst zum richtigen Gleis finde“. Dabei helfen ihr die in München entlang der Gleise eingebauten Riffellinien, die sie mit dem Stock ertasten kann. Auch die an den Gleisköpfen angebrachten Schilder mit der Gleisnummer in Reliefschrift sind für blinde und sehbehinderte Menschen eine wichtige Orientierungshilfe. Und wenn alle Stricke reißen, nimmt Verena gerne die Hilfe der Bahn-Mitarbeiter am Service-Point in Anspruch, die auch noch in letzter Minute dafür sorgen können, dass sie ihren Zug nicht verpasst.

Manchmal allerdings kommt es dennoch vor, dass Verena im Straßenverkehr einen Laternenpfahl „übersieht“ und sich daran die Nase stößt. „Damit muss ich leben, denn als Einzelkämpferin will ich wie im Sport für meine Fehler selbst verantwortlich sein.“

 

Text: Gunther Belitz, Fotos: Evelyn Bolsinger (WM 2003 in Baiersbronn), Gunther Belitz

Erstabdruck im Magazin HANDICAP, Ausgabe 3-2003






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